Hashtags and Heartbeats – Prolog

Ein Abschied und tausend Fragen

Man sagt ja immer, das Leben würde in diesen winzigen, schicksalshaften Momenten entscheiden, ob du am Ende überlebst oder gegen die Wand fährst. Für mich begann alles an einem nebligen Morgen in Clifden, mit einem Koffer, der zu schwer war, einer Mutter, die versuchte, nicht zu weinen, und einem Vater, der mir mit einem leisen Nicken sagte: „Mach’s gut.“

Keine großen Worte. Keine Tränen. Nur dieses Nicken. Und trotzdem fühlte es sich an, als würde er mir eine unsichtbare Liste in die Hand drücken: „Mach was aus dir, Naira. Geh deinen Weg. Und vergiss nicht, die Tür hinter dir zuzumachen.“

Ich hätte ihn umarmen sollen. Ihm sagen sollen, dass ich ihn liebte. Stattdessen stieg ich in den Bus und fuhr los, die Augen auf den Horizont gerichtet, als würde der mich vor meiner eigenen Angst retten.

London war nichts, wie ich es mir vorgestellt hatte. In den Filmen sieht es immer so romantisch aus – rote Doppeldeckerbusse, ikonische Brücken, Menschen in schicken Mänteln, die irgendwohin eilen, wo das Leben offenbar besser ist. In Wirklichkeit ist es laut, hektisch und irgendwie dreckig. Die Straßen kleben, die Luft riecht nach Abgasen, und wenn dir einer anrempelt, entschuldigt sich keiner.

Meine Wohnung? Ein winziger, schimmliger Albtraum. Ein Fenster, das so klein war, dass ich kaum sehen konnte, ob draußen die Sonne schien, und ein Teppich, der aussah, als hätte er schon bessere Tage hinter sich. Aber ich redete mir ein, dass es ein Anfang war.

„Neuanfang in London“, schrieb ich in die Caption meines Instagram-Posts.

 #DreamBig – als hätte ich alles unter Kontrolle.

Die Kommentare kamen schneller rein, als ich sie lesen konnte: „Wow, wie mutig von dir!“„London steht dir sicher gut!“„Ich beneide dich so sehr!“ Beneiden? Mich? Über was genau? Den Schimmel in meiner Dusche?

Aber ich machte weiter. Ich kämpfte mich durch die ersten Wochen: Vorlesungen, U-Bahn-Chaos und die unerträgliche Einsamkeit, die mich jedes Mal packte, wenn ich in meine leere Wohnung zurückkehrte. Mein Instagram wuchs, und mit jedem neuen Follower fühlte ich mich ein bisschen weniger wie ein Niemand. Emma, eine extrovertierte Studentin aus einer Nachbarwohnung, brachte schließlich etwas Licht in mein graues Londoner Leben. Sie war laut, lustig und hatte eine Gabe, dich in jeder Situation aufzumuntern – selbst, wenn sie dafür deinen Kühlschrank plündern musste.

Sechs Monate später kam der Anruf, der alles veränderte.

Es war früh am Morgen, viel zu früh für gute Nachrichten. Eileen, meine ältere Schwester, war am anderen Ende der Leitung. Ihre Stimme war so ruhig, dass sie mir sofort die Luft abschnürte.

„Naira… Papa hatte heute Morgen einen Herzinfarkt.“

Ich klammerte mich an mein Handy, als könnte es mich vor dem Fallen bewahren. „Wie geht’s ihm?“ flüsterte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte.

„Er hat es nicht geschafft.“

Es war, als würde die Welt stillstehen, während ich ins Nichts starrte. Meine Gedanken wirbelten wie ein Tornado durch meinen Kopf: Flieg nach Hause. Verabschiede dich. Sei bei deiner Familie. Aber dann hörte ich ihn in meinem Kopf, mit dieser ruhigen, bestimmten Stimme: „Bleib, Naira. Hör nicht auf. Mach weiter.“

Das war der Moment, in dem ich etwas Wichtiges über mich selbst lernte: Mut fühlt sich manchmal schrecklich an. Er ist nicht die große Geste, die dich wie ein Held aussehen lässt. Oft ist er das leise, verzweifelte Festhalten an einem Traum, während alles in dir schreit, dass du loslassen sollst.

Also blieb ich. Ich blieb in London, während mein Vater zu Grabe getragen wurde. Ich blieb, während meine Familie weinte und ich meine Mutter nur durch den Bildschirm meines Handys sehen konnte. Und ich blieb, obwohl ich das Gefühl hatte, dass ein Teil von mir dort auf der Veranda in Clifden geblieben war – bei ihm.

Ein Jahr später zog ich nach Frankfurt, um mein Studium fortzusetzen. Die Arbeit als Influencerin brachte mich dorthin – ein Jobangebot, das ich nicht ausschlagen konnte. Emma kam mit, natürlich, und unsere kleine WG wurde noch bunter, als Leila, eine Frankfurter Medizinstudentin, bei uns einzog.

Frankfurt fühlte sich anders an als London. Es war heller, freundlicher. Doch auch hier blieb dieser leise Schatten, der mich manchmal nachts wachhielt. Der Gedanke, dass ich vielleicht etwas aufgegeben hatte, das ich nie zurückbekommen würde. Aber ich machte weiter. Das taten wir doch alle, oder? Wir gingen weiter, auch wenn ein Teil von uns irgendwo in der Vergangenheit stehen geblieben war.

„Manchmal bringt das Leben uns auf Wege, die wir nicht erwarten“, schrieb ich in die Caption meines Posts mit einem Bild der Frankfurter Skyline. Die Likes trudelten ein, und die Kommentare waren voll von Bewunderung: „Du bist so stark.“„Ich wünschte, ich hätte deinen Mut.“ Sie wussten nicht, dass ich mich so schwach fühlte wie nie zuvor.

Aber das ist das Ding mit Mut. Manchmal braucht es mehr Mut, ehrlich zu sich selbst zu sein, als einfach weiterzumachen. Und ich wusste, irgendwann würde ich die Stärke finden, zuzugeben, dass ich nicht alles im Griff hatte. Aber nicht heute.

Heute blieb ich einfach.